Herr Flasbarth, die EU-Mitgliedstaaten und das Europaparlament haben ein schwächeres Klimaziel für 2040 beschlossen als ursprünglich von der Kommission geplant. Warum sinken die Ambitionen beim europäischen Klimaschutz?
Ich empfinde das nicht so und sehe auch nicht diese gravierenden Schwächen am 2040-Klimaziel. Die EU ist weltweit gesehen Teil der Staatengruppe mit den weitreichendsten Klimazielen – neben UK, Brasilien oder Chile, die auch bis 2050 klimaneutral werden wollen. Angesichts der globalen wirtschaftlichen Bedeutung der EU führt das 2040-Ziel zu einer der größten und umfangreichsten Transformationsstrategien. Dieses Signal strahlt in viele internationale Märkte aus, in Asien oder Lateinamerika. Daher ist es ein ehrgeiziges Klimaschutzziel.
Die Haupt-Zielvorgabe ist mit minus 90 Prozent zwar gleich geblieben, aber für die EU-Staaten selbst sind es nur 85 Prozent. Die Instrumente, die uns dorthin bringen sollen, wurden aufgeweicht durch mehrere sogenannte Flexibilisierungen: etwa durch die Einbeziehung internationaler Zertifikate nach Artikel 6 des Paris-Abkommens.
Die Emissionsminderung, die außerhalb Europas erbracht werden könnte, wäre nur dann eine Abschwächung, wenn das Artikel-6-System nicht zuverlässig wäre. Und da bin ich anderer Meinung. Die EU hat in den vergangenen zehn Jahren hart verhandelt, um eine integre Ausgestaltung des Artikels 6 zu erreichen und wirksame Klimaschutzmaßnahmen zu ermöglichen. Ich selbst habe mich lange quergestellt, weil die Ausgestaltung nicht ausreichte, um einerseits "heiße Luft" zu verhindern und andererseits wirklich nachhaltige Emissionsminderungen zu gewährleisten. Heute kann ich sagen: So wie wir den Artikel 6 nunmehr in Baku auf der COP29 im Jahr 2024 beschlossen haben, lassen sich diese wichtigen Vorgaben für einen sozialen und nachhaltigen Klimaschutz erfüllen.
Dass die EU diesen Mechanismus jetzt nutzt, heißt aber im Umkehrschluss, dass die Mitgliedstaaten selbst weniger Klimaschutz leisten müssen. Die Frage ist, ob man sich das Leben dadurch zulasten anderer erleichtert.
Das Europäische Parlament hat die Bedingungen für die Nutzung ausländischer Zertifikate noch einmal etwas hochgeschraubt. Wenn die EU internationale Zertifikate für ihre Klimaziele nutzen möchte, müssen dies hochwertige Zertifikate mit robusten Anrechnungsregeln und klaren Umwelt- und Sozialstandards sein. Doppelzählungen müssen ohnehin bei Artikel-6-Zertifikaten klar ausgeschlossen werden können. Die Klimaschutzprojekte müssen neben einer dauerhaften Emissionsminderung auch die Transformation in den Investitionsländern voranbringen. Insofern sehe ich da keine Erleichterung für Europa. Ob die fünf Prozentpunkte wirklich ausgereizt werden, halte ich daher für völlig offen. Am Ende könnten internationale Zertifikate mit diesen starken Qualitätskriterien teurer sein als die Grenzvermeidungskosten in der EU.
Sprich, es wird günstiger sein, Treibhausgase in der EU zu reduzieren, als die Vermeidung auszulagern?
Ja, genau so könnte es kommen. Wenn das aber nicht so wäre und wir stattdessen sinnvolle Klimaschutz- und Renaturierungsmaßnahmen im Ausland über Artikel 6 finanzieren, die sonst nicht durchgeführt werden würden, erfüllen wir ebenfalls das Pariser Abkommen. Viele Länder im Globalen Süden hoffen sogar darauf und wollen davon Gebrauch machen. Deshalb ist es wichtig, dass das Pariser Abkommen klar regelt, wie die Zusammenarbeit bei internationalen beziehungsweise zwischenstaatlichen Klimaschutzmaßnahmen zu erfolgen hat.
Weniger heimische Minderung bis 2040 bedeutet aber auch, dass der Weg zur Klimaneutralität bis 2050 wieder weiter und die Reduktionskurve steiler wird.
Ja, das waren meine Bedenken: nicht die vermeintliche Schwächung des Klimaschutzes, sondern die wirtschaftspolitische Frage, ob es nicht besser wäre, die letzte Dekade der Treibhausgasminderung flacher statt steiler auszugestalten. Die Periode zwischen 2040 und 2050 wird vermutlich anstrengender, weil dann im Wesentlichen noch die schwer zu dekarbonisierenden Bereiche wie die Grundstoffindustrie oder die Landwirtschaft übrig bleiben. Es gibt aber auch die Gegenthese, wonach wir eine technologische Lernkurve erleben werden, die uns Emissionsminderungen in der letzten Dekade bis 2050 erleichtern könnte. Das sind beides aber ökonomische Argumente. Wichtig ist: Die Treibhausgasneutralität im Jahr 2050 ist ein "domestisches" Ziel der gesamten EU und so bei den UN völkerrechtlich verbindlich hinterlegt – das heißt, wir können 2050 keine internationalen Märkte mehr für die Erreichung unseres eigenen EU-Klimaziels nutzen.
Und wenn die EU-Länder die fünf möglichen Prozentpunkte für Artikel 6 nicht ausreizen, müssen sie diese Emissionsminderungen wieder selbst leisten?
So ist es. Wenn beispielsweise nur zwei Prozentpunkte für Emissionsminderungen in internationalen Klimaschutzprojekten genutzt werden – entweder weil nicht mehr gebraucht wird, weil nicht mehr zur Verfügung steht oder weil es zu teuer ist –, dann müssen heimisch 88 Prozent reduziert werden. Das festgelegte Ziel der EU, das auch international kommuniziert wird, ist und bleibt 90 Prozent Treibhausgasreduktion bis 2040.
Im Zweifel wird man aber erst sehr spät herausfinden, wie viele hochqualitative internationale Zertifikate zum annehmbaren Preis zur Verfügung stehen. 2036 ist es womöglich zu spät, weitere Minderungen in Europa zu organisieren.
Das ist richtig. Deshalb haben wir uns in allen Verhandlungen dafür eingesetzt, dass die maximal fünf Prozentpunkte nicht in andere Klimaschutzinstrumente eingepreist werden wie den Emissionshandel. Die Kommission wird prüfen, wie wir die 90 Prozent zuverlässig erreichen können. Artikel 6 kann dann als Sicherheitsnetz dienen, falls wir uns in bestimmten Wirtschaftsbereichen schwertun, die letzten Meter zu den 90 Prozent zu schaffen. Meine Vermutung ist, dass es am ehesten im LULUCF-Sektor gebraucht werden könnte.
Stichwort LULUCF: Es gibt eine Revisionsklausel, die es ermöglicht, die Instrumente, aber auch das Ziel selbst, zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen, wenn etwa der LULUCF-Bereich nicht die erhofften Minderungen erbringt. Fürchten Sie da nicht um die Rechtssicherheit dieses Ziels?
Die Revisionsklausel ist ein wichtiger Teil des Kompromisses. Wir als Bundesregierung hätten sie nicht gebraucht. Um in einem Europa, das mehr denn je in Klimaschutzfragen um Positionen ringen muss, alle auf einen Nenner zu bringen, war sie erforderlich. Grundsätzlich verstehe ich auch, dass man angesichts der immensen Kraftanstrengung für einen treibhausgasneutralen Kontinent ab und zu noch einmal den Weg dorthin kartiert.
Gilt das auch für die Verschiebung des ETS 2?
Das war eine sehr bewusste Entscheidung. Für einige Länder war die Verschiebung wichtig, weil sie mehr Zeit für die Einführung des europäischen CO2-Preises für Wärme und Verkehr brauchen.
Aber es schwächt die europäische Klimaarchitektur.
Nein. Die Vorgaben der Effort-Sharing-Richtlinie gelten ja weiterhin und damit auch die Klimaziele für den Verkehrs- und Gebäudebereich, zumindest bis 2030. Es geht hier vor allem um die gesellschaftliche Akzeptanz und die soziale Dimension der CO2-Bepreisung. Denn der CO2-Preis ist an der polnischen Ostgrenze genauso hoch wie in Madrid, Paris und Hamburg. Das ist eine politische Belastung, selbst in Ländern, die Klimaschutz ernst nehmen. Auch Polen stellt die Notwendigkeit des ETS 2 nicht grundsätzlich infrage, aber sie sehen, dass der CO2-Preis für durchschnittliche polnische Preisverhältnisse gesellschaftlich sehr herausfordernd ist. Hier brauchen wir gute Lösungen, zum Beispiel über den Klimasozialfonds, der bereits ab dem kommenden Jahr die Arbeit aufnimmt – unabhängig von der Verschiebung des ETS 2 um ein Jahr.
Mit Blick auf den Umweltrat am Dienstag, den vierten in diesem Halbjahr: Wie fällt Ihre Bilanz des Jahres in Bezug auf die europäische Klimapolitik aus?
Das waren wirklich außergewöhnliche Momente, die mich – obwohl ich schon lange im Geschäft bin – sehr berührt haben: Wie wir uns inhaltlich in Brüssel gefetzt haben, nur wenige Tage vor der COP30, und dann doch mit großer Einigkeit in Belém aufgetreten sind. Keiner ist ausgeschert, alle EU-Staaten haben an einem Strang gezogen. Da war ich schon auch stolz auf unser Europa. Das hat Dynamik ausgelöst und auch dazu geführt, dass Brasilien die Fahrpläne gegen die weltweite Entwaldung und für die Abkehr von fossilen Energien doch noch auf den Weg gebracht hat. Selbstständig als COP-Präsidentschaft zwar und nicht für alle verbindlich, aber mehr war realistischerweise auch nicht drin.
Und Sie sind nicht enttäuscht, dass es in Belém mit einem Ausstiegspfad für Fossile doch nicht geklappt hat?
Dass wir im Rahmen der internationalen Gemeinschaft einstimmig einen klaren Fahrplan zum Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas hinkriegen, war von vorneherein äußerst unwahrscheinlich. Dass wir nun aber die Möglichkeit einer breiten Ausstiegsallianz haben, ist sicher Lulas grandioser Rede zur Eröffnung der COP30 und dem Einsatz der brasilianischen Regierung zu verdanken, insbesondere auch Umweltministerin Marina Silva. Jetzt wird es zwar erstmal ein freiwilliger Prozess, aber ich bin sicher, viele Staaten werden sich in die beiden Fahrpläne einbringen, und ich glaube, ohne das starke Signal Europas wäre das nicht so gekommen.